Ulrike Hanke in Zusammenarbeit mit dem Team Hochschuldidaktik der Universität Basel (Alessandro Dall‘Acqua, Dominik Marti, Vera Roth, Gerhild Tesak)
Seit ChatGPT öffentlich verfügbar ist, hat sich Hochschullehre verändert – unabhängig davon, ob wir von der Hochschule aus festgelegte Regeln haben oder KI im Unterricht thematisieren: Studierende nutzen KI, und damit ist sie faktisch Teil des Lehr-Lern-Gefüges. Warum das so ist, lässt sich sehr gut am klassischen didaktischen Dreieck (vgl. Bönsch, 2006 u.v.a.) zeigen, das mit der Veröffentlichung von ChatGPT quasi über Nacht eine weitere Ecke erhalten hat und damit zum didaktischen Tetraeder geworden ist.
Was dies für unsere tägliche Lehrpraxis bedeutet, zeigen wir Ihnen in diesem Blogbeitrag.
Schauen wir uns aber zunächst nochmals das klassische didaktische Dreieck an und zeigen auf, wie mit dessen Hilfe erklärt werden kann, was gute Lehre kennzeichnet.
Das klassische didaktische Dreieck
Das traditionelle didaktische Dreieck (vgl. u.a. Bönsch, 2006) als Analysemodell beschreibt Lehr-Lern-Situationen durch drei Eckpunkte und deren Beziehungen (vgl. Abb. 1), wobei wir hier mit Beziehung eine Interaktions- und Einflussbeziehung im Lehr-Lern-Gefüge meinen.
- Die Lehrperson
- Die Lernenden
- Der Lerngegenstand (das, was gelernt werden soll)
Die wichtigste Beziehung in diesem Modell ist die zwischen den Lernenden und dem Lerngegenstand, denn wenn diese Beziehung aufgebaut wird, findet Lernen statt. Um diese Beziehung herzustellen, geben wir als Lehrpersonen unseren Lernenden Aufgaben, stellen Inhalte bereit, geben Feedback und unterstützen den Lernprozess.

Abb. 1: Didaktisches Dreieck
Das Dreieck dient als heuristisches Modell, um die Balance der verschiedenen Aspekte des Lehr-Lern-Gefüges zu betrachten; Entscheidend dafür, dass die Lernenden eine Beziehung mit dem Lerngegenstand eingehen, ist dabei die Stabilität der beiden anderen Seiten des Dreiecks. Stabilität steht dafür als Metapher für klare Rollen und lernförderliche Interaktionen. So ist es z.B. ungeschickt, wenn sich die Lehrperson zu stark nur auf den mit den Lerngegenstand konzentriert, denn dann vergisst sie die Lernenden. Es kommt dann leicht zu einer Überforderung der Lernenden, die unter diesen Umständen keine Verbindung zum Lerngegenstand aufzubauen vermögen. Außerdem sollte die Beziehung der Lehrperson zu den Lernenden durch ein klares Rollenverständnis gekennzeichnet und damit weder zu eng noch zu locker sein, da dies zu einer Verunsicherung der Lernenden führen würde.
Es ist also letztlich nur die Beziehung zwischen Lernenden und dem Lerngegenstand die enger werden darf und soll. Sollten unsere Lernenden uns als Lehrpersonen irgendwann beim Lernen vergessen, wäre dies nicht schlimm, sondern ein Zeichen, dass die Lernenden im „Flow“ (Csikszentmihalyi, 1985) sind, d.h. voll im Lernen aufgehen.
Ein gleichschenkliges, stabiles Dreieck kann damit als das Kennzeichen guter Lehre gelten.
Nun kommt die KI in das didaktische Dreieck dazu. Was bedeutet das für die Lehre?
Das didaktische Dreieck wird durch KI zum didaktischen Tetraeder
Mit dem Auftreten von KI-Tools wie ChatGPT lässt sich das didaktische Dreieck sinnvoll als didaktischer Tetraeder (vgl. Abb. 2) weiterdenken, denn erstens interagieren Studierende inzwischen häufig mit KI (vgl. u.a. Garrel & Mayer, 2025) – sie nutzen sie zum Verstehen, Üben, Formulieren oder Überprüfen. Und zweitens erzeugt KI eigenständige Outputs, die sich unmittelbar auf den Lerngegenstand beziehen: Erklärungen, Beispiele, Argumente oder Lösungswege.
Damit ist mit der KI also eine zusätzliche Größe ins Lehr-Lern-Gefüge getreten und kann als vierte „Ecke“ des Gefüges konzeptualisiert werden, die das Verhältnis zwischen Lernenden, Lehrenden und Lerngegenstand strukturell mit prägt – unabhängig davon, ob wir sie aktiv integrieren oder nicht.

Abb. 2: Didaktischer Tetraeder
Daraus ergibt sich eine große Chance für die Lernenden und das Lernen, aber es ergeben sich auch nicht zu unterschätzende Risiken.
Doch zunächst mal zur Chance:
Chance durch KI im Lehr-Lern-Kontext: Zusätzliche Unterstützung beim Lernen
Der positive Aspekt dieser neuen Konstellation liegt auf der Hand: Studierende erhalten eine zusätzliche Unterstützungsquelle. Sie können sich nicht nur an die Lehrperson wenden, wenn sie etwas nicht verstehen oder Hilfe benötigen, sondern haben mit der KI eine ständig verfügbare Lernbegleitung.
- KI kann als Tutor:in fungieren, um z.B. Schritt-für-Schritt-Erklärung des Lerngegenstandes zu geben oder auch Prüfungen zu simulieren.
- KI kann als Sparringspartner:in für Ideen- oder Hypothesengenerierung genutzt werden.
- KI als Feedback-Tool gibt Feedback auf erste Textentwürfe oder auch mathematische Lösungsversuche usw..
Die KI ist somit neben der Lehrperson eine weitere Größe, die den Lernprozess unterstützen kann.
Sehr deutlich zeigt der didaktische Tetraeder aber auch nicht zu vernachlässigende Risiken auf:
Risiko: Die Gefahr der Abkürzung
Die Gefahr, die viele Lehrende zu Recht sehen, besteht darin, dass Studierende nun die „Abkürzung“ über die KI nehmen und ihre Beziehung zum Lerngegenstand ausschließlich durch Prompting der KI aufbauen (vgl. Abb. 3). Damit umgehen sie das eigentliche Lernen, d.h. sie beschäftigen sich nicht mit dem Lerngegenstand, sie setzen sich nicht mit ihm auseinander – sie nehmen eine Abkürzung, die zwar kurzfristig zu Ergebnissen führt, aber kein tiefes Verständnis ermöglicht, weil keine tiefere Verarbeitung stattfindet, die jedoch für nachhaltiges Lernen unerlässlich ist.

Abb. 3: Risiko „Gefahr der Abkürzung“, verdeutlicht im didaktischen Tetraeder
Es besteht aber noch ein anderes Risiko, welches vielen derzeit nicht so bewusst ist, sich aber langsam schon in den Hörsälen zeigt:
Risiko: KI ersetzt Lehrpersonen
Durch die ständige Verfügbarkeit von immer besser werdenden KI-Chatbots besteht aber auch die Gefahr, dass Studierende uns als Lehrpersonen durch die allgegenwärtige, geduldige und auf sie individuell eingehende KI ersetzen (vgl. Abb. 4). Damit wird der didaktische Tetraeder auf ein didaktisches Dreieck reduziert, das die Lehrperson durch den KI-Chatbot ersetzt.

Abb. 4: Konkurrenz Lehrperson – KI, dargestellt im didaktischen Tetraeder
Dass es bereits Trends gibt, die in diese Richtung zeigen, macht z.B. ein Bericht der FAZ aus dem Oktober dieses Jahres (2025) über leere Hörsäle und eine Forderung nach Wiedereinführung der Präsenzpflicht deutlich (vgl. FAZ, 14.10.25).
Allerdings sind wir davon überzeugt, dass die Wiedereinführung der Präsenzpflicht KEIN erfolgsversprechender Weg ist. Vielmehr ist hier gute Lehre gefragt, die anderes bietet als die KI bieten kann. Sehr anschaulich, was sich Studierende wünschen, zeigt der Beitrag des Studenten Lasse Bremer als Reaktion auf den oben genannten Beitrag der FAZ). Solche Berichte lassen sich als Hinweis lesen, dass Studierende Präsenzangebote zunehmend stärker nach ihrem Mehrwert gegenüber KI bewerten.
Was können, bzw. müssen wir also tun?
Werfen wir zunächst einen Blick auf unser Analyseinstrument: den didaktischen Tetraeder.
Wenn wir analog zum didaktischen Dreieck davon ausgehen, dass auch der Tetraeder wiederum stabil sein muss, müssen wir zusätzlich folgende neuen Beziehungen in den Blick nehmen:
Wir sollten unsere Beziehung als Lehrpersonen zur KI stabilisieren, d.h.
- wir sollten eine eigene Position gegenüber der KI vor unseren Lernenden einnehmen.
- wir sollten die KI-Nutzung in der Lehre thematisieren.
Wir sollten die Beziehung zwischen den Lernenden und der KI sichern, indem
- wir sicherstellen, dass die Lernenden grundlegende Kenntnisse im Umgang mit KI haben/erwerben, so dass sie die KI produktiv nutzen können.
- wir mit den Lernenden über den Einsatz von KI sprechen und Empfehlungen dazu aussprechen, wie Sie KI lernförderlich nutzen können.
Wir sollten die Beziehung zwischen dem Lerngegenstand und der KI thematisieren, indem
-
wir mit den Studierenden daran arbeiten, dass diese erkennen, dass KI Fehler machen kann und Bias und Stereotype produziert.
Und was können wir tun, damit wir nicht überflüssig werden und die KI unsere Aufgabe übernimmt?
Diese Frage ist sicherlich nicht abschließend zu klären, denn insgesamt müssen Menschen im Moment ihre Rolle gegenüber immer besser werdender KI schärfen und zum Teil neu definieren, andererseits ist es aus Sicht der Didaktik auch nicht so schwer, dies zu definieren: Gute Didaktik dürfte hier helfen.
- Wir können eine gute Lernkultur aufbauen.
- Wir können soziale Eingebundenheit herstellen.
- Wir können einen Austausch und ein Miteinander mit anderen Menschen moderieren.
- Wir können epistemische Praktiken vorleben, d.h. zeigen, wie Wissenschaftler:innen wirklich arbeiten.
- Wir können eine ethische, fachkulturelle Urteilsbildung anbahnen.
- Wir können die Lernenden durch Resonanzerleben und durch unsere Persönlichkeit motivieren.
Fazit: Was heißt das für uns als Lehrpersonen?
KI wird die Hochschullehre nicht „zukünftig“ verändern, sondern hat dies längst getan.
Der didaktische Tetraeder hilft uns, diese neue Realität zu sehen:
- als Chance, weil Lernende mehr Unterstützung bekommen,
- als Risiko, weil Lernen durch KI-Umwege ersetzt werden kann, und weil wir bei schlechter Lehre Gefahr laufen durch KI ersetzt zu werden,
- und als Auftrag, weil wir die Stabilität des gesamten Beziehungsgefüges aktiv sichern und uns gegenüber den Lernenden neben der KI positionieren müssen.
Für uns folgt daraus ganz konkret:
- Wir können KI nicht ignorieren.
Nicht, weil es „en vogue“ ist, sondern weil es das Beziehungsgefüge der Lehre bereits verändert hat. - Wir müssen die direkte Beziehung Lernende – Lerngegenstand schützen und stärken.
Aufgaben, Prüfungen und Lernarrangements sollten so gestaltet sein, dass Denken, Urteilen und Handeln der Studierenden sichtbar und unverzichtbar bleibt. - Wir brauchen eine aktive Lehrendenrolle im Umgang mit KI.
Nicht als Kontrolleur:innen, sondern als Gestalter:innen: Was soll und darf KI unterstützen? Wo wird sie zur Abkürzung? Wie machen wir gute Nutzung lernwirksam? Was bieten wir als Lehrpersonen anderes als die KI?
Quellen
- Bönsch M. (2006). Das didaktische Dreieck als Grundmodell. In Bönsch (Hrsg.) Allgemeine Didaktik (S. 149-150). Suttgart: Verlag W. Kohlhammer.
- Csikszentmihalyi, M. (1985). Das Flow-Erlebnis. Stuttgart: Klett.
- Dweck, C. (2007). Mindset. Changing The Way You Think To Fulfill Your Potential. Updated Edition. London: Robinson.
- Garrel, J. & Mayer, J. (2025). Künstliche Intelligenz im Studium – Eine quantitative Längsschnittstudie zur Nutzung KI-basierter Tools durch Studierende (2023 & 2025). Hochschule Darmstadt, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Darmstadt, Deutschland. doi: 10.48444/h_docs-pub-533
Hinterlasse einen Kommentar