ein Gastbeitrag von Christine Lux und Kolleg*innen
Ich erinnere mich noch gut an meine Zeit als Studentin. Das tägliche „Überraschungsei“ Vorlesung mit Spannung: Was lerne ich wohl heute? Oder auch: Wie geht es weiter? Und Spaß: Mehr Wissen für mein Gehirn. (Gut, für die Schokolade musste ich selber sorgen…). Zusammenfassend folgte ich dem roten Faden der Dozenten und lernte.
Heute bin ich gut ausgebildet, habe Spannung und Spaß an und in meinem MINT-Beruf. Und vor Kurzem durfte ich auch einen Perspektivenwechsel in der Lehre erleben: Den roten Faden kann man als Studierender begleitet durch die Dozenten auch selbst spinnen. Verschiedene Bausteine können dabei die (mir) bisher bekannte Art zu Lehren und zu Lernen ergänzen: zum Beispiel die Lehrmethode „Just-in-Time-Teaching“ (JiTT). Dabei bekommen die Studierenden vor der Lehrveranstaltung einen klar formulierten Studierauftrag mit anschließendem Online-Quiz. Die aus dem Quiz resultierenden studentischen Fragen und Problemstellungen führen zu einer Anpassung der Lehrveranstaltung. In Präsenz im Hörsaal oder Live-Online mit einem Videokonferenzsystem kann als weitere Lehrmethode Diskussion in Kleingruppen, genannt „Peer Instruction“ (PI), verwendet werden.
JiTT und PI werden bereits seit mehr als acht Jahren erfolgreich in den Projekten HD-MINT (hd-mint.de), PRO-Aktjv 1 und 2 (pro-aktjv.de) im Förderprogramm BayernMINT an der TH Rosenheim in Physik und vermehrt auch in Mathematik eingesetzt, angepasst und weiterentwickelt. Dabei konnte gezeigt werden, dass
- ein deutlich höherer Lernzuwachs in der Mechanik bei den Ingenieurstudierenden
- eine Zunahme von 16 % erfolgreichen Erstprüfungen im Fach Physik und
- eine deutlich höhere studentische Zufriedenheit
als mit klassischem seminaristischen Unterricht erreicht werden kann (Details siehe Prüfungsverhalten und aktivierende Lehre und weitere Publikationen unter pro-aktjv.de).
Bildquelle: BayernMINT, Bayerisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst
Motivation
Lehrende an der Hochschule stellen sich vermutlich früher oder später die Frage, wie die Studierenden dazu motiviert werden können, bereits ab der ersten Semesterwoche kontinuierlich mitzuarbeiten und die Selbstlernzeiten sinnvoll zu nutzen, um nicht erst kurz vor oder in den Prüfungen festzustellen, was nicht verstanden wurde. Dazu kommt der Wunsch, dass alle Studierenden unabhängig von ihrer Lernbiographie vom Unterricht in Präsenz oder auch Live-Online maximal profitieren sollen, indem sie bestenfalls vorbereitet in die Lehrveranstaltung kommen und sich mit ihren Fragen aktiv einbringen.
In den technischen Studiengängen sind in den ersten Hochschulsemestern die Anforderungen hinsichtlich abstraktem Denken und Konzeptverständnis an die Studierenden hoch. Die Dozenten begleiten sie dabei in der Entwicklung vom Schüler zum Ingenieur, d.h. von jemandem, der nur mit erlernten Regeln arbeitet, zu einem selbständig, vernetzt denkenden Menschen, der komplexe Probleme lösen kann. Dieses Spannungsfeld wird für die Lehrenden verstärkt durch die sehr große Heterogenität der Studierenden sowohl im physikalisch-mathematischen Vorwissen als auch hinsichtlich der Kompetenz, selbstorganisiert zu lernen.
Just-in-Time Teaching (JiTT)
“Am meisten unterstützen mich die JiTTs, weil diese zum kontinuierlichen Lernen animieren.“ (Studentische Rückmeldung aus der Evaluation)
Die an den seminaristischen Unterricht angepasste JiTT-Methode [Novak et al. 1999] beginnt bereits in der ersten Lehrveranstaltung des ersten Semesters mit der Ankündigung des ersten Studierauftrags. In einem Physikbuch soll ein vorgegebenes Thema selbständig studiert und dazu ein Online-Vorquiz im E-Learning Kursraum des LMS (Learning Management System, z.B. moodle) der Hochschule bearbeitet werden. Dieser Test besteht aus einer Lesekontrollfrage, Verständnisfragen und kleinen Rechenaufgaben.
Zusätzlich werden die Studierenden gebeten, selbst eine Frage zu dem durchgearbeiteten Thema zu stellen, die schon ein eigenes Durchdenken des Stoffs erkennen lässt („Frage nach der Frage“). Sie haben abschließend noch die Möglichkeit, Anmerkungen zum Thema zu geben. Der Lehrende bereitet die folgende Lehrveranstaltung (Präsenzphase bzw. Live-Online) anhand der ausgewerteten Ergebnisse des Online-Quiz und der studentischen Fragen vor. Dieses kurzfristige, aber durchaus aufwändige Anpassen der Lehrveranstaltung wird im Amerikanischen „Just-in-Time Teaching“ genannt. Ziel ist nicht, den „Stoff alleine zu lernen“, sondern „Vorwissen in die Lehrveranstaltung mitzubringen“ und „den Dozenten Einblick zu geben, was verstanden wurde und was nicht“. Im seminaristischen Unterricht werden daher neben kurzen Erklärungen zu den wichtigsten Begriffen des Kapitels an passender Stelle gute studentische Fragen aufgegriffen, konzeptorientierte Peer Instruction-Fragen (s.u.) gestellt und auch angepasste Übungen gerechnet. Da Lernen nicht geradlinig, sondern in Schleifen verläuft (vgl. Neurodidaktik z.B. [Braun et al. 2004]), bearbeiten die Studierenden nach der Lehrveranstaltung ein anspruchsvolleres Online-Nachquiz, das wiederum eine Fragemöglichkeit zulässt. In der darauffolgenden Lehrveranstaltung wird auf die Fragen und Probleme des Nachquiz kurz eingegangen.
Das Schema der JiTT-Studieraufträge wiederholt sich wöchentlich und kontinuierlich das ganze Semester hindurch. Die JiTT-Quiz sind ein System freiwilliger mid-term-Prüfungen, die in der Prüfungsordnung verankert sind. So wird erreicht, dass 80 % bis 90 % der Studierenden das Semester hindurch mitarbeiten.
Peer Instruction (PI)
“Bei den Clicker-Fragen merkt man in der Diskussion mit dem Nachbarn, was man noch nicht verstanden hat, wenn man es ihm nicht ordentlich erklären kann.“ (Studentische Rückmeldung aus der Evaluation)
Bildquellen: © BR-Alpha, Fernsehbeitrag auf ARD-Alpha am 08. Juni 2017
Wohlüberlegte Fragen, die auf das Konzeptverständnis der Physik zielen, werden mit Hilfe von Abstimmungssystemen („Clicker“, Apps oder Umfragetools) von den Studierenden in der Lehrveranstaltung zunächst einzeln beantwortet. Nach Sichtbarmachen der Antwortstatistik erklären sich die Studierenden in Peer-Diskussionen gegenseitig die physikalischen Zusammenhänge [Mazur 1997] (die richtigen Argumente überzeugen erfahrungsgemäß). Live-Online werden dazu Breakout-Rooms genutzt. Anschließend wird mit einer weiteren Abfrage sichergestellt, dass alle zum richtigen Verständnis gelangt sind. Damit werden die Studierenden regelmäßig dazu angeregt, sich in stringenter fachlicher Kommunikation zu üben und erfahren zudem Rückmeldung über ihren Lernfortschritt.
Wichtig für den sinnvollen Einsatz dieser Methode ist die Qualität der Fragen. Es geht nicht darum, einfach Wissensfragen im Sinne von „Wer wird Millionär“ abzufragen, sondern Fragen zu stellen, die ein gedankliches Konzept adressieren und wirkliches Nachdenken erzeugen. Für den Lehrenden ist die Erstellung guter und geeigneter Fragen eine Herausforderung.
Fazit
Mit Hilfe von „JiTT“ und „PI“ als wirksame Lehrmethoden – nicht nur in der Live-Online Lehre – erreichen wir, dass:
- die Studierenden das ganze Semester hindurch zu kontinuierlichem Arbeiten angeregt werden;
- die Studierenden schon mit eigenen Fragen zum Thema kommen und im Unterricht häufig über 50 % mitmachen;
- die Studierenden von Anfang an lernen, sich eigenständig Wissen aus Büchern anzueignen, weiterführende Fragen zu stellen und miteinander zu diskutieren;
- die Möglichkeit besteht, fehlende Vorkenntnisse durch den selbstgesteuerten Lernprozess aufzuholen;
- zwischen Studierenden und Dozenten eine zeitnahe und individuelle fachliche Rückkopplung stattfindet.
Neugierig geworden? Informationen finden Sie auf unserer Homepage www.pro-aktjv.de und unsere Publikationen auf www.pro-aktjv.de/publikationen:
Link zur Kurzversion der Lehrmethoden,
Link zur Langversion der Lehrmethoden
Bildquellen in diesem Beitrag, sofern nicht genannt: TH Rosenheim
Christine Lux für das gesamte PRO-Aktjv-Team:
E.Junker, R.Kellner, B.Naumer, C.Schäfle, S.Stanzel, F.Graupner, J.Lacković, C.Lux, M.Sussmann, M.Weber
Herzlichen Dank für den Gastbeitrag an Christine Lux und das PRO-Aktjv-Team!
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