Die kurze Antwort lautet: Ja! Kein aber? Doch: Auf eine virtuelle Vorlesung muss sich eine Lehrperson konzeptionell etwas anders vorbereiten als auf eine Präsenz-Vorlesung, auch wenn Abläufe ähnlich sind. Es braucht ein anderes Selbstverständnis der Lehrperson und mehr Auflockerung und Abwechslung. In diesem Blogbeitrag möchte ich Ihnen ein paar Dinge zeigen, die bei mir sehr gut funktioniert haben. Vielleicht sind Sie ja auch für Sie umsetzbar und hilfreich. 

Dr. Jan-Arne Gewert arbeitet als Unternehmensberater und akkreditierter Trainer mit den Schwerpunkten strategische Unternehmensführung und Ausbildung von top-Führungskräften. Als Lehrbeauftragter unterrichtet er Management & Leadership auf Bachelor- und Masterstufe an Fachhochschulen in Deutschland und der Schweiz. Dabei kommen verschiedene Lehrformate wie Vorlesungen, Seminare, Strategie-Planspiele zum Einsatz.

Vom ersten Moment an gemeinsam online aktiv

Wie auch in der klassischen Vorlesung bitte ich die Teilnehmenden auch in der virtuellen Vorlesung, sich beim ersten Treffen vorzustellen. Gleich im Anschluss steige ich gern mit einer Diskussion zu einem tagesaktuellen Aufreger in die Zusammenarbeit ein. Das mag sich zugegeben in Zeiten von Wirecard beim Thema Unternehmensführung etwas leichter darstellen als in anderen Fächern. Doch mit etwas Fantasie finden Sie sicherlich auch in Ihrem Fach ein Thema, das aus Sicht der Teilnehmenden interessant ist und an die Thematik der Vorlesung heranführt. Mit dieser Art der Einführung ist der erste Damm des Schweigens gebrochen. Alle haben schon einmal online ins Mikrofon gesprochen.

Was interessiert Euch: erfüllbare Wünsche erfüllen

Welches Thema interessiert die Teilnehmenden besonders? Es hilft besonders in einer Online-Lehrveranstaltung die Motivation und Interesse zu halten, wenn wir uns im Rahmen der Möglichkeiten auf die Interessen der Studierenden einlassen. Wenn es meine Vorbereitungszeit erlaubt, dann können sich die Studierenden bei mir Ihre Vorlesungsschwerpunkte im Rahmen des Curriculums frei wählen. Wenn der Kalender voll ist, dann wählen sie zumindest zwischen verschiedenen Themen aus meinem Fundus aus. Das gibt ihnen ein Mini-Freiheitsgefühl in Zeiten, die wir alle als eher unfrei empfinden.

Virtuell kennt keinen Katheder

Was ich über die Corona-Semester auch erfahren habe ist, dass virtuelles Lernen zu einer Demokratisierung der Lehrsituation führt, denn die Lehrperson steht nicht mehr vorne im Mittelpunkt. Die Insignien der Macht wie das Pult gibt es nicht. Die Lehrperson hat es in der Hand einen geschützten Raum zu schaffen, in dem jeder Teilnehmende psychologische Sicherheit empfindet. Dafür müssen wir in unserer virtuellen Position mehr als sonst entscheiden, wie unser Selbstverständnis ist, was wir von uns preisgeben wollen und was in der jeweiligen Situation angemessen ist. Wir überzeugen virtuell nur durch unsere Kompetenz, Empathie, Sprache und Können, denn Status spielt hier aus meiner Sicht keine Rolle.

Wenn wir aber nicht überzeugen können, dann verlieren wir den Kontakt zu den Studierenden, denn sie haben die Möglichkeit, sich einfach „auszuklinken“. Wir ahnen nicht einmal, was sie eigentlich tun. Vieles hat mit dem Vorlesungsinhalt nichts gemeinsam. Dies wurde mir bewusst, als Studierende mir das Feedback gegeben haben, dass sie in meiner Vorlesung nicht einmal ihr Computerspiel gestartet hätten. Es scheint also nicht ungewöhnlich zu sein, in der Vorlesung nebenbei zu zocken.

Wo bleibt in Online-Vorlesungen der studentische Spaßfaktor?

Wo bleibt das Getuschel und Geflüster zwischen den Reihen? Wie mit Anklopfen oder dem Öffnen der virtuellen Saaltür umgehen? Ganz einfach: Allem online in der laufende virtuelle Veranstaltung Raum geben, es wie im Präsenzunterricht geschehen lassen oder es offensiv direkt integrieren und ansprechen. Ich kündige zu Beginn meiner Online-Vorlesung an, dass der Paketbote das neue Notebook bringen wird, so dass ich später kurz unterbrechen kann, um zur Tür zu gehen. Auch begrüße ich virtuell zu spät kommende Teilnehmende recht herzlich und überlege zusammen mit dem Kurs, ob wichtige Inhalte versäumt wurden. Damit möchte ich jeder einzelnen Person Wertschätzung entgegenbringen: Es macht auch online einen Unterschied, ob der/die Einzelne da ist oder nicht.

Außerdem versuche ich alles „Menschliche“ über den gemeinsamen Chat mitlaufen zu lassen, das habe ich von den Informatik-Studierenden gelernt. Sie nutzen den Chat der Lehrveranstaltungen, um nebenbei auch ihre Späße zu machen. Die Teilnehmenden bekommen bei mir die Zeit, um von sich zu berichten, wenn irgendwas geschehen ist, oder sie etwas dringend loswerden möchten. Externe Störungen haben bei mir auch online einen berechtigten Vorrang. Sie helfen dabei, das Interesse und die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden zu binden.

Ein Wort zur Technik

Ob wir mit PowerPoint, Miro-Board, Stift und Papier vor der Dokumentenkamera oder einem Lehrvideo arbeiten: Jedes Medium kann zu seiner Zeit gute Wirkung entfalten. Wichtig aus Sicht der Teilnehmenden ist, dass wir die Medien angemessen anwenden und abwechseln.

Der Satz „Stimme macht Stimmung“ gilt übrigens auch virtuell. Damit wir gut gehört werden, ist das eingebaute Mikrofon im Laptop meist nicht ausreichend. Ob Headset, Richtmikrofon oder Konferenztelefon das richtige ist, müssen alle selbst entscheiden. An manchen Tagen habe ich 6 – 8 h virtuellen Unterricht zu sprechen, wobei alles über 6 h virtuell für mich persönlich zu viel ist. Da fühlt sich ein Headset auf meinen Ohren nicht mehr gut an. Die Sprachqualität ist nach Rückmeldungen der Teilnehmenden mit einem Großmembranmikrofon optimal, wenn man dies aus der korrekten Distanz bespricht. Ein guter Kompromiss ist ein hochwertiges Konferenztelefon. Der Ton ist recht gut und mit dem Telefon auf dem Tisch kann man über lange Zeit entspannt sprechen und kann sich etwas freier bewegen als mit dem Großmembranmikrofon.

Im Leben geht mancher Schuss daneben

Perfektionismus ist aus meiner Sicht in der virtuellen Lehre keine gute Idee: Es wird Herausforderungen geben,  z. B. mit der Technik. Sich darüber zu ärgern, macht es nicht besser. Wenn etwas nicht funktioniert, dann bieten sich informelle Feedbackgespräche mit den Studierenden an. Warum hat etwas nicht geklappt? Was können wir besser machen?

Vorsicht mit Ironie und Provokation

Provokationen können im Präsenzunterricht ein probates Mittel sein, um eine Diskussion anzuheizen. Doch im Distanzunterricht rate ich davon ab. Wir lesen nicht in Echtzeit die Gesichter aller Teilnehmenden. Gerade bei Internationalen Studiengängen ist es wahrscheinlich, dass die Nuancen nicht ankommen. Daher empfehle ich auch lieber Bildwitze als witzige Sprachbeiträge in die Vorlesung einzubauen.

Storytelling

Dagegen funktioniert Storytelling hervorragend. Zu Lehrzwecken wähle ich fürs Storytelling gern knifflige Situationen aus, welche in die künftige berufliche Situation der Studierenden passen. Dann dürfen sie erklären, wie sie in der Situation vorgehen würden. Wir wägen gemeinsam die Alternativen ab und zum Schluss erzähle ich, wie die wahre Geschichte ausgegangen ist. Diese Lehrmethode wird als gleichsam unterhaltend und lehrreich wahrgenommen.

Virtuell als künftiger Standard?

Auch wenn virtuell Vieles möglich ist, so wünsche ich persönlich mir die Präsenzveranstaltungen zurück. Die Intensität des gemeinsamen Erlebens, der Moment des gemeinsamen Erkenntnisgewinns ist nach meiner Einschätzung unersetzlich. Wenn ich mich an die Highlight-Vorlesungen meines Studiums erinnere: Dieses Erleben ist nicht durch einen Flachbildschirm zu ersetzen. Für technisch-mathematische Themen kann man ohne Frage viel Wissen auf Distanz vermitteln. Doch je näher unsere Vorlesungsschwerpunkte am menschlichen Tun und Handeln sind, desto schwieriger wird es aus meiner Sicht, dies virtuell in angemessener Tiefe und Intensität anzugehen.    

Herzlichen Dank für den Gastbeitrag an Dr. Jan-Arne Gewert!

Weitere Ideen

Weitere Ideen finden Sie in unserem videobasierten Selbstlernkurs „Virtuelle Präenzlehre lernförderlich, anregend und entspannt gestalten“ 

und unserem Buch „Clevere Methoden für virtuelle Präsenzkurse“.

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