ein Gastbeitrag von Julia Rausenberger & Oliver Mülken
Wie können Dozierende in der virtuellen Präsenzlehre die Aktivität der Studierenden stärken und sie ebenfalls kollaborativ in die Lehre einbeziehen?
In diesem Beitrag möchten wir unsere Erfahrungen aus den vergangenen Semestern mit virtueller Präsenzlehre teilen – mit Blick darauf, wie es gelingen kann, als Dozent*in fortlaufend wahrzunehmen, was bei den Lernenden passiert, und somit auch virtuelle Veranstaltungsverlauf situativ an die Erfordernisse anzupassen und Lehr-Lern-Prozesse zu gestalten.
Julia Rausenberger ist seit 2020 Professorin für Angewandte Mathematik in Life Sciences an der Hochschule für Life Sciences der Fachhochschule Nordwestschweiz. Nach ihrem Mathematik-Studium an den Universitäten Münster und Tübingen sowie der Scuola Normale Superiore (Pisa) hat sie in diversen interdisziplinären Forschungsprojekten mit Biotechnologen und Biologen geforscht und an der Universität Freiburg im Brsg. im Bereich der Systembiologie promoviert. Seit 2010 ist sie Dozentin für Mathematik an der Hochschule für Life Sciences FHNW. In ihrer langjährige Lehrerfahrung fokussiert sie auf die Verknüpfung des mathematischen Fachwissens sowohl mit Anwendungen in den Life Sciences als auch mit dessen studierenden-orientierten, didaktischen Aufbereitung. Durch den Einsatz agiler Elemente und Unterrichts-Konzepte, z. B. eduScrum, erlangen Studierende neben dem Erwerb mathematischer Kompetenzen wichtige Kompetenzen des 21. Jahrhunderts, wie Kollaborations- und Kommunikationsfähigkeit.
Oliver Mülken ist seit 2019 Dozent für Mathematik und Physik an der Hochschule für Life Sciences Sciences der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er hat an der Universität Oldenburg Physik studiert und dort 2001 promoviert. Nach einem PostDoc-Aufenthalt an der Universität Utrecht (Niederlande) wurde 2008 er an der Universität Freiburg in Physik habilitiert und war nachfolgend dort eigenverantwortlich in Forschung und Lehre tätig. 2012 wurde er zum ausserplanmässigen Professor ernannt. Nach dem Ausscheiden aus der Universität hat er das Referendariat für das gymnasiale Lehramt absolviert und an Gymnasien in Baden-Württemberg sowie an der Fachmaturitätsschule Basel als Mathematik- und Physiklehrer gearbeitet. In seiner langjährigen Tätigkeit als Dozierender an Hochschulen sowie als Lehrer an allgemeinbildenden Schulen gilt sein Interesse der Anwendung von verschiedensten analogen und digitalen Lehrformaten in Mathematik und Physik.
Agile Didaktik
Fünf Wochen nach Beginn des Herbstsemesters 2020/21, in dem an der FHNW in der Schweiz hybrid unterrichtet werden konnte, stand der zweite Lockdown und somit die Verlegung des Hybrid-Unterrichts in kompletten Online-Unterricht bevor.
Wenn auch der direkte Face-to-Face-Kontakt in der virtuellen Präsenzlehre erschwert ist, gibt es dennoch unterschiedliche Möglichkeiten als Lehrperson die (Lern-)Bedürfnisse der Studierenden wahrzunehmen und echte Kommunikation in der virtuellen Welt stattfinden zu lassen. In den letzten Jahren hat sich der Begriff der „agilen Didaktik“ – auch in Analogie zu „agiler Softwareentwicklung“ – geprägt. Mit der nachfolgenden Beschreibung geht Christof Arn in seinem Buch „Agile Hochschuldidaktik“ darauf ein, was unter agiler Didaktik verstanden werden kann.
„Wer sich auf echte Kommunikation einlässt, wird beweglich reagieren müssen und wollen. „Agile Didaktik“ bezeichnet daher treffend, was es für diese Art des Lehrens braucht. Man könnte das Geschehen auch Co-Didaktik oder Mit-Didaktik nennen, weil diese Didaktik überhaupt erst im Miteinander mit den Lernenden entsteht; oder Kontaktdidaktik bzw. Begegnungsdidaktik, weil die echte Interaktion, der tatsächliche Kontakt angestrebt wird und elementar ist für diese Art und Weise, zu lehren; […] Von dieser Eigenschaft der agilen Didaktik herkommend könnte man sie mit einem Augenzwinkern auch als „Präsenzunterricht“ bezeichne, da sie eben volle Präsenz, Geistes-Gegenwart verlangt, um im Moment wahrzunehmen, was wichtig ist und entscheiden zu können, was als nächstes zu tun ist.“*
Ausgehend von diesem Lehr-/Lernverständnis und in Kombination mit dem Einsatz agiler Unterrichtskonzepte wie beispielsweise eduScrum, haben sich folgende Elemente agiler Hochschuldidaktik im Einsatz in der virtuellen Präsenzlehre in den zurückliegenden Corona-Semestern bewährt.
Direktes, anonymisiertes Studierenden-Feedback in Zoom
Viele direkte Interaktionen der Präsenzlehre lassen sich nur schwer in die Hybrid- bzw. virtuellen Präsenzlehre übertragen. Ein wichtiges Instrument, um den Lernfortschritt in der Präsenzlehre direkt zu überprüfen, sind Abfragen verschiedener Art: Diese reichen vom einfachen Handheben zu vorgegebenen Fragen zum gerade behandelten Thema bis zu digitalen Formen wie bspw. „Clicker“. In der Hybrid- wie auch virtuellen Präsenzlehre bieten Video-Konferenz-Systeme wie „Zoom“ den Lehrenden darüber hinaus weitere attraktive Möglichkeiten, direktes, anonymisiertes Feedback zu jedem Zeitpunkt während einer synchronen Lernphase von den Studierenden einzuholen.
Hierbei bieten die digitalen Formen des Feedbacks einen echten Mehrwert. Zum einen ist es möglich, auch komplexere Fragestellungen in visueller Form darzustellen, siehe unten. Zum anderen lassen sich diese Abfragen auch anonym durchführen, was zu einer aktiveren Beteiligung der Studierenden führen kann.
Konkret wurden in der virtuellen Präsenzlehre folgenden Möglichkeiten des direkten Feedbacks in Zoom eingesetzt:
Stempel-Abfrage
In der Vorbereitung etwas aufwendiger, aber in der Umsetzung sehr einfach, ist die Stempel-Abfrage unter der Zoom-Rubrik „Kommentieren“. Sie gibt den Lehrenden, aber auch allen anwesenden Studierenden ein promptes, visuelles Feedback, das entweder den weiteren Verlauf der Online-Sitzung oder aber die Themenbearbeitungen während einer anschliessenden asynchronen Lernphase leiten kann.
Zum Einsatz der Stempelabfrage dienen folgende Beispiele:
Als Icebreaker bzw. Start in den zweiten Tag der Tutor*innen-Basis-Qualifizierung im März 2021 wurden die Studierenden aufgefordert, einen Stempel in die Gemütswelt zu setzen, mit der sie sich aktuell am besten identifizieren und somit die Frage beantworten «Wie bist Du heute hier?». Es wurde den Studierenden freigestellt, ihren Namen dem Stempelabdruck zuzuordnen. Die Lehrperson erhält ein sofortiges Stimmungsbild auf dessen Grundlage die Online-Einheit begonnen werden kann.
Selbsteinschätzung des Lernstandes in einem mathematischen Modul im April und Mai 2021:
Wie schätzen die Studierenden ihren aktuellen Lernstand am Ende einer Vorlesungseinheit selber ein? Die Lehrperson kann basierend auf der Selbsteinschätzung der Studierenden entscheiden, welche Themen vertieft besprochen werden sollten.
Als Rückblick auf das Semester sowie als Grundlage für die bevorstehende Prüfungs-Vorbereitungszeit diente die Stempelabfrage im Stile eines Spider-Plots. Je weiter die Kreuze weg von der Mitte gemacht werden, umso besser schätzen die Studierenden ihren Umgang mit dem entsprechenden Thema ein.
Promptes Feedback zum Verständnis während einer Mathematik-Vorlesung im März 2021:
Haben die Studierenden das soeben behandelte Thema verstanden? Statt eine Umfrage mit den Kategorien «ja/teilweise/nein» zu starten, bietet die Visualisierung eine Möglichkeit, auch Zwischenwerte bzw. eine grössere Skala auszunutzen. Die Lehrperson kann, basierend auf diesem Feedback, in den nächsten Vorlesungsteil gehen, nochmals Themen wiederholen oder beispielsweise Break-Out-Rooms einrichten, um niveau-spezifisch die Studierenden an Aufgaben arbeiten zu lassen.
Anonyme Chat-Abfrage
In der Vorbereitung deutlich weniger aufwendig ist die aktive Einbindung des Chats. Der Chat bietet eine weitere Möglichkeit, viele unterschiedliche Sichtweisen und Wortmeldungen der Studierenden einzusammeln. Da im Chat normalerweise jeder Eintrag mit dem Namen der Studierenden verbunden ist und dies eine mögliche Hemmschwelle für ehrliches Feedback darstellen kann, bietet es sich an, den Chat für eine gezielte Abfrage zu anonymisieren.
Die Lehrperson fordert die Studierenden auf, sich alle in «xxx» umzubenennen. Danach stellt die Lehrperson z. B. eine offene Frage in den Chat. Der Vorteil der anonymisierten Chatabfrage liegt in der Transparenz: Neben der Lehrperson können ebenfalls die Studierende die Wortmeldungen aller Kommiliton*innen in anonymisierter Form lesen. Anders als in der physischen Präsenz leisten der Erfahrung nach auch zurückhaltendere Studierende in diesem Setting einen konstruktiven Feedback-Beitrag.
Um jedoch einen «Shitstorm» oder unkontrollierte Nonsens-Kommentare zu vermeiden sowie um die Akzeptanz der Intervention zu erhöhen, sollte die Zielsetzung, das Vorgehen, und der weitere Umgang mit den anonymisierten Chat-Einträgen vorab umfänglich mit den Studierenden besprochen werden.
Die anonymisierte Chat-Abfrage kann wahlweise zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Online-Sitzung eingesetzt werden: zu Beginn als Stimmungsbild („Welche wichtigste Frage hat sich in der Vorbereitung ergeben?“, „Welches Thema möchte ich heute vertiefen?“), während der Online-Sitzung („Was ist mein bisheriger Aha-Moment?“, „Das habe ich noch nicht verstanden…“) oder um eine Online-Sitzung – ähnlich zu der didaktischen Methode „Muddiest Point“ – abzuschliessen („Welche Frage ist für mich heute offen geblieben?“, „Was ist mein wichtigstes Lernerlebnis der heutigen Sitzung?“).
Weitere Ideen für erfrischende Check-In, Check-Out- oder Zwischendrin-Fragen finden sich z. B. auf www.tscheck.in.
Abb. 5 gibt ein Beispiel der anonymisierten Chat-Abfrage zum Ende der Tutor*innen-Basis-Qualifizierung im März 2021. Die angehenden Tutor*innen wurden aufgefordert zu folgenden Punkten Stellung zu beziehen: „Hier habe ich Sicherheit erlangt“ und „Hier brauche ich noch Unterstützung“.
Wünsch-dir-Was-Videos
Die Durchführung von Hybrid- bzw. virtueller Präsenzlehre erschwert die direkte Interaktion zwischen den Studierenden und der Lehrperson. In Phasen der Gruppenarbeit im Präsenzunterricht erhalten Lehrende häufig allein durch die physische Anwesenheit einen allgemein guten Eindruck über den Lernstand bzw. die Schwachstellen und offenen Themen, mit denen sich die Studierenden aktuell auseinandersetzen. Die nonverbale Kommunikation der Studierenden sowie „ein grosses offenes Ohr“ in den Hörsaal oder Seminarraum kann durch den Einsatz von Break-Out-Rooms in der virtuellen Präsenzlehre nicht vollständig abgebildet werden.
Der Einsatz von verlinkten oder selbstproduzierten Erklärvideos unterstützt das Lernen in den asynchronen Unterrichtsphasen. Ob jedoch mit den von der Lehrperson antizipierten und vorgegebenen Themen dieser Videos das aktuelle Lernbedürfnis der Studierenden abgedeckt werden, wird in der Regel nicht überprüft.
Um sich als Lehrperson am Lernen der Lernenden orientieren zu können, ist somit echte Kommunikation sowie Interaktion nötig. In diesem Sinne haben wir sehr gute Erfahrungen mit sogenannten Wünsch-dir-was-Videos gemacht, die ebenfalls im Sinne des Just-in-Time-Teachings (JiTT)* eine zielgerichtete Ergänzung zum Unterrichtsmaterial darstellen.
Auf Grund der positiven Resonanz der Studierenden im Herbstsemester 2020/21, wurde das Angebot der Wünsch-dir-was-Videos auch im Frühlingssemester 2021 in einem mathematischen Grundlagenmodul weitergeführt: Mit Nutzung des Moodle-Kurses können die Studierenden selber entscheiden, welche Input-Videos produziert werden sollen. Über ein verlinktes Kurs-Padlet können sie Themenwünsche platzieren und bewerten („liken“), die Lehrperson kann durch Kommentare in den Dialog mit den Studierenden gehen. Die Studierenden sehen, welche Videos aktuell in Produktion sind bzw. welche bereits produziert wurden und auf einer ihnen zugänglichen Videoplattform verlinkt sind.
Die selbst produzierten Erklär-Videos lassen sich ohne grossen Aufwand bspw. durch Bildschirm-und-Ton-Aufnahme auf einem iPad in Kombination mit gängigen Apps wie „GoodNotes“, „Notability“ oder „OneNote“ erstellen. Genauso lassen sich solche Videos mit vorbereiteten Präsentationen aufnehmen. Es zeigte sich allerdings, dass Videos, bei denen das Thema Schritt-für-Schritt erarbeitet und händisch aufgeschrieben wird, von den Studierenden als hilfreicher eingeschätzt werden.
Als positiver Nebeneffekt kann in kommenden Durchführungen auf bestehendes Material zurückgegriffen werden sowie neue Themen-Input-Videos produziert werden, so dass eine eigene Video-Sammlung entsteht.
Der wichtigste Punkt der Wünsch-dir-was-Videos liegt jedoch im Sinne einer agilen Hochschuldidaktik – die Lehrperson kann sich am Lernen der Lernenden orientieren sowie hinschauen, was lernwirksam ist. Darüber hinaus fühlen sich die Studierenden mit ihren Lern-Bedürfnissen wahr- und ernstgenommen.
Somit ist das Format der Wünsch-dir-was-Videos, dessen Entwicklung durch die Covid-Pandemie angestoßen wurde, auch für die Präsenzlehre ein zu erhaltendes Format.
Fazit
Durch eine agile Grundhaltung sowie durch niederschwellige Interventionen ist es für Dozierende auch in der virtuellen Präsenzlehre möglich, die Aktivität und soziale Eingebundenheit der Studierenden zu fördern, die Studierenden in die Lehre mit einzubeziehen und den Lehr-Lern-Prozess mit den Studierenden zu gestalten.
Literatur
*Ch. Arn „Agile Hochschuldidaktik“, Beltz-Juventa-Verlag, S. 19
*Novak, GN, Patterson, ET, Gavrin, A, and Christian, W (1999), Just-in-Time Teaching: Blending active Learning and Web Technology, Saddle River, NJ: Prentice Hall.
Herzlichen Dank für den Gastbeitrag an Julia Rausenberger & Oliver Mülken!
Weitere Ideen
Weitere Ideen finden Sie in unserem videobasierten Selbstlernkurs „Virtuelle Präenzlehre lernförderlich, anregend und entspannt gestalten“
und unserem Buch „Clevere Methoden für virtuelle Präsenzkurse“.
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