von Ulrike Hanke in Zusammenarbeit mit Gerd Macke und Nina Bach

Ausgangspunkt: Erfahrungen in der Zeit des Lockdowns

Gegenwärtig verändert sich unsere Welt sehr schnell. In der Corona-Pandemie ist dieser Veränderungsprozess schlagartig sichtbar geworden. Vieles von dem, was bisher für viele einfach selbstverständlich war, scheint nun nicht mehr zu passen: beispielsweise der lehrerzentrierte Präsenzunterricht oder das Abfragen von Faktenwissen in Klausuren an Schulen, Hochschulen und Universitäten. Beides sind keine didaktischen Herausforderungen, die nicht schon vor der Pandemie kritisch gesehen worden wären; aber durch die Pandemie und die Erfahrungen, die nun alle gezwungenermaßen mit Online-Lehre und Online-Prüfungen machen mussten, sind diese eigentlich bekannten Herausforderungen einerseits vielen bewusster und andererseits die Stärken und Möglichkeiten des „Neuen“ erfahrbarer geworden. Insofern hat die durch die Corona-Pandemie erzwungene abrupte und radikale Umstellung von Präsenzlehre auf digitale Formate der Lehre wohl manche aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt.

Dabei hatte sich der kulturelle Wandel von einer ausschließlich analogen Welt hin zu einer analog-digitalen Gesellschaft schon länger angedeutet; in Teilbereichen der Gesellschaft (Wirtschaft 4.0) ist er teilweise bereits erfolgt. Uns interessiert nun zweierlei:

  • Was kennzeichnet diesen Wandel von einer ausschließlich analogen Welt hin zu einer analog-digitalen Gesellschaft genauer?
  • Und was bedeutet der Wandel für die Bildungsprozesse an Universitäten und Hochschulen?

Im Bereich des schulischen Lehrens wird der sich abzeichnende Wandel schon bedacht, diskutiert und es werden Vorschläge publiziert (siehe z. B. das Routenplaner-Buch, das #Twitterlehrerzimmer, den Youtube-Kanal von Philippe Wampfler, die Podcasts unter edufunk.fm). Dagegen hinkt die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Wandel in der Hochschullehre aus unserer Sicht noch hinterher.

Was Sie in dieser Blogreihe finden

Mit unserer Blogreihe wollen wir (Gerd Macke, Nina Bach und Ulrike Hanke) deshalb versuchen, dem noch zögerlichen hochschuldidaktischen Diskurs belebende Impulse zu geben. Wir werden in nächster Zeit unter dem Hashtag #analogdigitaleHD immer wieder Gedanken zum Thema niederschreiben. Dabei haben wir vor allem zwei Absichten:

  • Wir möchten über den Tellerrand der Hochschuldidaktik hinausschauen, also Interdisziplinarität anstreben und Querverbindungen zwischen relevanten Disziplinen (Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Informatik, Kognitionswissenschaften, Anthropologie u. a.) fruchtbar werden lassen.
  • Und wir möchten eine wissenschaftliche Perspektive einnehmen und durchhalten (hier: eine bildungstheoretische Perspektive, die vom Individuum her gezogen wird und in der das Individuum in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt wird) und dabei zugleich die Praxis nicht aus dem Blick verloren wird.

Dabei möchten wir unsere Gedanken nicht als zu Ende gedacht verstanden wissen. Wir stellen sie bewusst zur Diskussion und freuen uns deshalb auf Kommentare und Diskussionen hier im Blog und auf Twitter, Facebook und LinkedIn. Auch Gastbeiträge hier auf unserem Blog sind willkommen

Um den Rahmen anzudeuten, in dem sich unser Denken zum Thema „Bildung in einer analog-digitalen Gesellschaft“ bewegen soll, stellen wir in diesem ersten Beitrag eine ausgearbeitete Position zur „Kultur der Digitalität“ (Stalder, 2016, 5. Aufl. 2021) kurz dar und zeigen auf, worin wir den angesprochenen Wandel sehen und was ihn kennzeichnet. Davon ausgehend möchten wir diskutieren, was dies für eine zeitgemäße Hochschulbildung bedeuten könnte.

Der Rahmen: Kultur der Digitalität

Wir möchten die angesprochenen Veränderungen und den Wandel überwiegend so verstanden wissen, wie Felix Stalder dies in seinem Buch „Kultur der Digitalität“ (Stalder, 2016) beschreibt. Seine Überlegungen sind überzeugend und für uns anschlussfähig an die Diskussionen im schulischen Bereich, denen wir seit Jahren folgen. Wir gehen davon aus, dass viele gute Gedanken aus diesem laufenden Diskurs auf die Hochschullehre übertragen werden können.

Was ist mit Kultur der Digitalität gemeint?

Für Felix Stalder (2016) ist die Kultur der Digitalität die derzeit vorherrschende Kultur. Sie vereint die analoge und die digitale Welt, die man heute nicht mehr getrennt voneinander denken kann. Diese Kultur der Digitalität ist eine Kultur der Vielfältigkeit (Stalder, 2016), in der jede und jeder einzelne vielfältigste Entscheidungen treffen kann und muss. Waren Lebensentwürfe früher durch Geburt weitgehend vorgegeben und Ausbrüche daraus kaum möglich, können und müssen wir heute viel mehr selbst entscheiden und unsere individuellen Lebenswege deutlich mehr in die eigenen Hände nehmen. So ist z. B. heute viel weniger vorgegeben, wie man das eigene Familienleben gestaltet: als klassische zwei-Eltern-Familie mit Kind(ern), als Patchwork-Familie oder ob man sich für ein Leben ohne Kind oder ein Leben in einer homosexuellen Beziehung (mit oder ohne Kind) entscheidet, um nur einige der vielen Möglichkeiten zu nennen.

Auch in anderen Bereich sind mehr Entscheidungen möglich und nötig, z. B. hinsichtlich der eigenen Geschlechtlichkeit (nicht nur Frau oder Mann sind heute möglich, sondern auch diverse Geschlechtszugehörigkeiten).

„Immer mehr Menschen beteiligen sich an kulturellen Prozessen, immer weitere Dimensionen der Existenz werden zu Feldern kultureller Auseinandersetzung, und soziales Handeln wird in zunehmend komplexere Technologien eingebettet, ohne die diese Prozesse kaum zu denken und schon gar nicht zu bewerkstelligen wären“ (Stalder, 2016, Pos 89).

Es zeigt sich deshalb, dass die Kultur in ihrer heutigen Form einerseits Ergebnis der digitalen Möglichkeiten ist, auf der anderen Seite  dazu führt, dass die Möglichkeiten des Digitalen laufend erweitert werden (vgl. Abb. 1).

Kulturelles Handeln erfordert die Weiterentwicklung von digitalen Möglichkeiten; sie beeinflussen kulturelles Handeln
Abb. 1: Zusammenspiel von Kultur und Möglichkeiten (eigene Darstellung)

Was ist Kultur?

Kultur entsteht durch Handeln von Individuen und Gruppen, deshalb versteht Stalder Kultur als „all jene Prozesse […], in denen soziale Bedeutung, also die normative Dimension der Existenz, durch singuläre und kollektive Handlungen explizit oder implizit verhandelt und realisiert wird“ (Stalder, 2016, Pos. 148).

Kultur ist in diesem Sinne „handlungsleitend und gesellschaftsformend“ (Pos. 151) und wird ständig neu verhandelt und unterliegt deshalb einem fortlaufenden Wandel (Stalder, 2016, Pos. 157), wobei natürlich immer auch beharrende Kräfte wirken, die einem Wandel entgegenstehen.

Die heutige Kultur

Die heutige Kultur ist dabei insbesondere geprägt von Möglichkeiten der digitalen Welt, also durch

  • die einfache Vernetzung über soziale Netzwerke,
  • die vereinfachte Kommunikation mit Menschen und
  • die einfache Zugänglichkeit zu Informationen.

Was macht die Kultur der Digitalität so besonders?

Stalder (2016) kennzeichnet die Kultur der Digitalität als die derzeitige Kultur, in der analoge und digitale Welt verschmolzen sind, durch drei Merkmale:

  • Gemeinschaftlichkeit
  • Referentialität
  • Algorithmizität

Gemeinschaftlichkeit bedeutet, dass Kultur nur in einer Gemeinschaft entstehen kann, in der gemeinsame Werte und Normen verhandelt werden.

Referentialität bedeutet, dass sich Menschen in ihrem kulturellen Handeln aufeinander beziehen und Bestehendes weiterentwickeln.

Algorithmizität bedeutet, dass die Kultur geprägt ist von maschinellen Prozessen, denn vor allem das, was uns die „Maschinen“ zugänglich machen, ist heute kulturformend.

Während aus unserer Sicht die ersten beiden Kennzeichen – Gemeinschaftlichkeit und Referentialität – kulturelles Handeln immer schon, also auch in einer rein analogen Welt, grundsätzlich konstituiert haben, ist vor allem die Algorithmizität prägend für die Kultur der Digitalität und damit die derzeitige Kultur mit ihrer Verschmelzung von analoger und digitaler Welt. Sie beeinflusst nämlich die Gemeinschaftlichkeit und Referentialität (vgl. Abb. 2).

Abb. 2: Verhältnis von Algorithmizität, Gemeinschaftlichkeit und Referentialität (eigene Darstellung)

Wie beeinflusst Algorithmizität die Gemeinschaftlichkeit?

So wird Gemeinschaftlichkeit durch die Algorithmizität einerseits erweitert und andererseits gleichzeitig beschränkt: Erweitert, weil man durch ihre Möglichkeiten einfach Menschen gleicher Gesinnung finden kann und sich Gemeinschaften auch über große physische Distanzen hinweg bilden können. Andererseits wird durch die Algorithmizität die Gemeinschaftlichkeit beschränkt: Was mir ein Algorithmus nicht zeigt, bleibt für mich verborgen. So führt die Algorithmizität zu den typischen Filterblasen und letztlich dazu, dass sich Gemeinschaften in ihrem kulturellen Handeln immer mehr verfestigen, weil sie vom kulturellen Handeln anderer Gemeinschaften aufgrund der Filterblase gar nichts mitbekommen. Auf diese Weise differenzieren sich Gruppen von Menschen zunehmend von anderen Gruppen, und es kommt auch zu Absonderungen.

Einerseits scheint es also so, dass die digitalen Möglichkeiten die Handlungsoptionen der einzelnen Individuen erweitern, weil sie Einblicke in vielfältige Lebensentwürfe ermöglichen. Gleichzeitig schränkt die Algorithmizität dies jedoch mehr ein, als vielen Menschen heute bewusst ist. Die Algorithmen, über die nur die großen Tech-Konzerne die Macht haben, beeinflussen uns und unsere Gemeinschaften massiv. Unsere Handlungen sind also durch die Schöpfer*innen der Algorithmen manipulierbar, was uns oft viel zu wenig bewusst ist, aber schlimme Folgen hat oder haben kann.

Hier lassen sich ersten Frage hinsichtlich (Hochschul-)Bildung anschließen:

  • Was bedeutet dies für Bildung?
  • Und was müssen wir als Lehrende an Hochschulen tun, um unsere Studierenden zu mündigen Handelnden in einer so leicht manipulierbaren Welt zu machen?

Wie beeinflusst Algorithmizität die Referentialität? Wie die Gemeinschaftlichkeit ist auch die Referentialität durch die Algorithmizität beeinflusst. So ist es heute durch die technischen Möglichkeiten sehr viel einfacher, sich auf die Worte und Werke von Menschen auf der ganzen Welt zu beziehen. Auf der anderen Seite besteht auch hier die Gefahr von Filterblasen, denn nur auf das, was mir der Algorithmus zugänglich macht, kann ich mich beziehen.

Klar: Früher hatte ich nur das, was um mich herum war, um mich darauf zu beziehen. Heute habe ich dagegen das Gefühl, auf alles Zugriff zu haben, aber durch die für mich nicht beeinflussbaren Algorithmen ist dieses Gefühl meist bloßer Schein.

Die Diskussion, die wir hier gerne antreiben möchten

In der Kultur der Digitalität sind physische Distanzen zwar aufgehoben und es sind dadurch verschiedenartige und vielfältige Gemeinschaften entstanden, aber sind sie nicht weiterhin gewissermaßen „geschlossene“ Kulturkreise?

Auch diese Frage ruft, ja schreit geradezu danach, in Bildungsprozessen berücksichtigt zu werden.

In diesem Sinne soll die Blogreihe aufgreifen, wie Bildungsprozesse in der Kultur der Digitalität, wie sie oben definiert wurde, gestaltet werden bzw. umgestaltet werden müssen. Es geht uns also nicht darum darüber zu debattieren, welche Geräte an den Universitäten fehlen oder wie Quiztools in Vorlesungen eingesetzt werden können. Stattdessen wollen wir uns mit der Frage beschäftigen:

Wie muss eine Bildung aussehen, die den Menschen befähigt, in dieser massiv von Algorithmizität geprägten Kultur eine gute Zukunft zu gestalten?

Wir sind gespannt, wie Ihr über die angesprochenen Problembereiche denkt und freuen uns über Eure Gedanken und den hoffentlich lebendigen und vielstimmigen Diskurs.

Gerd Macke, Nina Bach und Ulrike Hanke

Literatur
Stalder, F. (2016). Kultur der Digitalität. Suhrkamp Verlag.

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