Im Frühjahr 2020 hat mich die Pandemie belastet – ganz akut. Mir war schnell klar, dass ich auf mich aufpassen muss: Ich habe eine Meditationsapp heruntergeladen, weniger Nachrichten gelesen, und mich an Ostern in meine Lieblings-Buchreihe geflüchtet.

Sprung nach vorne ins Jahr 2022: Das Adrenalin ist abgeebbt. Akut war gestern. Heute ist die Belastung chronisch – und dadurch weniger sichtbar. Die Meditationsapp ist wieder gelöscht (sie war langfristig zu teuer). Und in meiner Arbeit als Hochschuldidakterin höre ich oft den Wunsch, es möge alles “wieder zum Normalen” zurückkehren. Die Hochschule solle wieder “wie früher” funktionieren.

Ich möchte in diesem Post auf einen Grund verweisen, warum das nicht möglich sein wird – denn darüber sprechen wir als Dozierende und Gestaltende der Hochschullandschaft viel zu wenig.

“Es muss einen Aufschrei geben auf jeglicher Ebene”

Letztes Jahr waren wohl Arte-Kameras in meiner Nähe. Hier bei mir in Offenburg wurde eine Doku über die Umstände in der Kinder- und Jugendpsychiatrie gedreht. Ich würde allen Dozierenden, die die Uhr zurückdrehen wollen, so gerne diese Doku als Notfall-Broadcast aufs Handy beamen.

Denn dort wird gezeigt, was Corona mit den Jugendlichen gemacht hat. Dass der Alltag weggebrochen ist, der Kontakt zu Peers unmöglich wurde, das hat viele junge Menschen in psychische Schwierigkeiten gebracht. Die Kliniken sind überfüllt, junge Leute, die dringend Therapie bräuchten, müssen abgewiesen werden. Die Klinikleitenden und Therapeuten leiden auch darunter.

Hier spielt auch eine Rolle, dass es (nicht nur für Kinder und Jugendliche) eine gewollte, jahrzehntelange, absichtliche Knappheit der Therapieplätze gibt. Das, kombiniert mit der Verschärfung durch Corona, lässt den leitenden Psychologen Pascal Fischer in der Doku sagen: “Es muss einen Aufschrei geben auf jeglicher Ebene.”

Die psychische Belastung mag unsichtbar sein, aber sie ist da

In unseren Lehrveranstaltungen sitzen jetzt Studierende, deren Leben durch Corona seit zwei Jahren immer aufs Neue auf den Kopf geschmissen wird. Schon vor Corona hat ein Drittel der 18- bis 34-Jährigen im Verlauf eines Jahres irgendeine psychische Störung erlitten. Das war früher “normal”. Und Corona hat besonders für jüngere Menschen das Risiko erhöht, dass sich diese Umstände verschlechtern.

Diese jungen Erwachsenen sitzen in unseren Veranstaltungen. Sie haben die Schule abgeschlossen, ihr Studium gewählt, sind Erstis geworden, ohne besonders viel von anderen Menschen und von der Welt sehen zu können; stattdessen hatten sie Instagram und Co., die nachweislich auch nicht gerade zuträglich sind für die psychische Gesundheit. Die Pandemie hat bei unseren Studierenden ihre Spuren hinterlassen, und diese Spuren werden nicht einfach weggespült, sobald es wieder Präsenzunterricht gibt.

Mein Wunsch: Radikales Mitgefühl für Lernende

Nun können wahrscheinlich die meisten, die diesen Beitrag lesen, keine Therapieplätze für junge Menschen schaffen. Aber wir als Lehrende haben trotzdem Macht: In jeder Veranstaltung sitzen bei uns junge Erwachsene, und wir bestimmen zu einem kleinen, zeitlich begrenzten, aber bedeutenden Teil über ihr Leben.

Lasst uns diese Macht jetzt anerkennen und verantwortungsvoll nutzen. Lasst uns im Kopf behalten, dass der Einstieg ins Studium sowieso schon immer das Wohlbefinden der Studierenden gesenkt hat. Dass die Lernenden, die an unseren Veranstaltungen teilnehmen, noch mehr Belastung mit sich herumschleppen, da sie mit am meisten unter der Pandemie gelitten haben. Lasst uns radikales Mitgefühl haben, den Studierenden einen Vertrauensvorschuss geben, und ihnen entgegenkommen.

Eine Didaktik der Entlastung und Förderung statt Belastung und Überforderung

Was können wir ganz konkret tun, um Studierenden entgegenzukommen? Aus meiner Sicht gibt es fünf große Bereiche, in denen wir etwas verändern können.

  • Flexibilität. Wir können unsere Veranstaltungen entfristen – Materialien länger zugänglich machen, Abgaben länger ermöglichen.
    • Beispiel: Es gibt eine Deadline für die Abgabe, wir kommunizieren aber direkt noch eine zweite Deadline, ein paar Tage später – hier kann man auch noch einreichen, allerdings muss man dann eine kleine Zusatzaufgabe lösen.
  • Didaktische Reduktion. Ein gestresstes Gehirn lernt nicht sonderlich nachhaltig. Wenn wir die Studierenden mit viel Stoff konfrontieren, ist nach zwei Monaten schon das Meiste vergessen. Das kann auch nicht in unserem Sinne sein. Wir sollten uns stattdessen gut überlegen, was wirklich wichtig ist, damit die Studierenden sich langfristig weiterentwickeln können.
    • Beispiel: Wir kürzen Thema C und verweisen nur darauf, dass es auch eine Rolle spielt. Bei Thema A und B geben wir Studierenden aber die Chance, aktiv die Kompetenzen zu erwerben, die ihnen ermöglichen, sich auch bei Bedarf Thema C zu erschließen.
  • Kommunikation. Mitgefühl kann man auch ganz explizit kommunizieren. Sagen wir unseren Studierenden doch, dass wir wissen, dass die Lage für sie schwierig ist. Wir können ihnen auch unsere guten Wünsche sagen.
    • Beispiel: In der virtuellen Veranstaltung bleiben viele Kameras aus. Statt die Studierenden zu kritisieren, sagen wir einfach, dass wir verstehen, dass man manchmal einen schlechten Tag oder kein gutes WLAN hat, oder mal was anderes los ist, weshalb man die Kamera lieber nicht einschaltet. Dass wir uns über jede eingeschaltete Kamera freuen, aber es auch verstehen können, wenn Kameras ausbleiben.
  • Zuverlässigkeit. Wir kommunizieren den Studierenden im Voraus ganz klar, was wir von ihnen erwarten. Dazu gehören auch vermeintliche Kleinigkeiten wie das Gendern in der Hausarbeit. Wir geben den Studierenden zuverlässige und konsequente Rahmenbedingungen, um die Lehrveranstaltung erfolgreich zu bestehen.
    • Beispiel: Wir laden ein Bewertungsraster für die Hausarbeit hoch. Wir sprechen es dann mit den Studierenden durch und beantworten Fragen. Im Laufe der Veranstaltung beziehen wir uns immer wieder auf das Raster und zeigen, was nötig ist, um entsprechend des Rasters eine gute Note zu bekommen.
  • Offenheit. Studierende wissen meist selbst, was sie brauchen. Wenn wir ihnen über anonyme Umfragen die Chance geben, uns mitzuteilen, wie es ihnen geht, bewirkt das gleich zweierlei: Einerseits gibt es vielleicht Dinge, die wir sofort konkret verändern können. Andererseits ist allein das Nachfragen gut für die Beziehung und fördert das Wohlbefinden der Studierenden.
    • Beispiel: Beim dritten Treffen im Semester laden wir die Studierenden ein, bei umfrageonline.com kurz und anonym anzugeben, ob der Stoff zu umfangreich ist, ob die Aufgaben zu schwer sind, und ob sie andere Wünsche hätten. Wir zeigen beim nächsten Treffen die Ergebnisse und erklären, was wir verändern können und was nicht.

Fazit: Die Zeit für Mitgefühl fängt gerade erst an

Die jüngsten Kinder, die in der Pandemie Schulschließungen erlebt haben, werden um 2038 rum fertig mit ihrem Studium werden – und das setzt voraus, dass die Pandemie nicht mehr lange dauert. Die Lebensrealität der nächsten Generation wurde stark von Corona geprägt, was bei einem nicht unerheblichen Anteil zu psychischen Belastungen geführt hat. Diese Belastungen werden wiederum auch die Lebensrealität der jungen Generation prägen – selbst wenn sie mal geheilt sind, was a) nicht immer mögich ist, und b) meist eine professionelle Behandlung voraussetzt – und diese ist zur Zeit Mangelware.

Die Zeit, um unseren Studierenden gegenüber mehr Mitgefühl denn je zu zeigen, fängt jetzt also erst so richtig an. Im Rahmen unserer Lehre können wir aber viel dafür tun, um Studierende nicht unnötig zu belasten – und wir müssen nicht befürchten, dass die Qualität der Lehre darunter leiden wird. Ganz im Gegenteil.

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